Matthias Kyburz, Grand-Prix Bern (Photo: Hugo Rey)
Matthias Kyburz, Grand-Prix Bern (Photo: Hugo Rey)

“Ich darf liefern, muss aber nicht»

Matthias Kyburz (32) ist aktuell bester Schweizer Orientierungsläufer.  Seine Klasse spielt er nicht nur in seiner Sportart aus, sondern auch in Cross-, Gelände- und Strassenläufen. Jüngst gewann der Fricktaler aus Möhlin, der seit Jahren in Bern Liebefeld lebt, den prestigeträchtigen 40. GP Bern.

Matthias Kyburz, mit deinem Triumph am GP Bern hast du dich als OL-Spezialist in der Laufszene ein weiteres Mal einzigartig profiliert. Wie fühlt sich das an?
Grossartig, etwas Vergleichbares im Strassenlauf habe ich noch nie erlebt.

Welchen Stellenwert schenkst du solchen Lauf-Wettkämpfen?
Einen hohen. Sie motivieren und sie fordern mich in den Rennen wie im Training das Beste zu geben. Aber: In erster Linie dienen sie zur Vorbereitung für die Höhepunkte im OL. Das soll nun keinesfalls arrogant klingen. Und: Ich schraubte zwei Tage vor dem Rennen mit dem Training herunter. 

Die Erkenntnis aus der Leistung und dem Erfolg?
Ich fühle mich der Hochform sehr nahe. Ende Monat beginnt in Schweden die Weltcup-Rennen. Dort will ich bereit sein. Die Planung scheint aufzugehen.

Wie gehst du an ein Rennen wie den GP heran?
Das Spezielle: Ich bestreite Läufe mit einer gewissen Lockerheit. Der Fokus, die Konzentration im OL sind ganz anders. Dennoch, ich liebe Stadtläufe, etwa den Basler Stadtlauf als Heimrennen, den Zürcher Silvesterlauf, den Kerzerslauf oder den GP Bern. Sie motivieren mich ganz speziell. Die Affiche: OL-Läufer Kyburz heizt den Spezialisten ein, tönt nicht schlecht. Auch in den Cross’ ist dieser Vergleich immer wieder spannend. Ich fühle mich als Jäger. An diesen Läufen darf ich liefern, muss aber nicht.

Kannst du etwas ausführen, wie du den Triumphlauf GP erlebtest?
Die Stimmung war einzigartig. Immer wieder hörte ich meinen Namen  und ganz OL-like: Allez Chlai (Anm. Es handelt sich um Kyburz’ Name in der OL-Szene. Er ist der jüngste von drei (OL-)Brüdern). Wir, Adrian Lehmann, John Kipkorir und ich, hatten uns schnell abgesetzt. Ich fühlte mich nie am Limit und hatte das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben. Nach Kilometer 8 und dem Dählhölzliwald bekamen meine Begleiter plötzlich Mühe. Ich konnte mich absetzten – ohne zu attackieren. 

Und?
Ganz gigantisch wurde die Passage durch die Altstadt auf dem Retourweg als Alleinleader. Das Publikum am Strassenrand applaudierte frenetisch und was mich besonders bewegte: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der hinteren Startblocks mit erst wenigen Kilometern in den Beinen bremsten ab, klatschten und feuerten mich an. Das sorgt für Gänsehaut.

In diesem Jahr hast du jede Direktkonfrontation (4) mit Adrian Lehmann, dem Team-Halbmarathon-Europameister und 2:12-Marathonläufer, für dich entschieden. Ist ein Schwenker in die Leichtathletik, etwa zum Marathon, kein Thema? Zumal du ja im OL so ziemlich alles erreicht hast, was möglich ist.
Diese Frage ist nicht neu. Der OL-Kaderarzt wies mich schon vor Jahren auf diese Möglichkeit hin. Und ich muss sagen. Die Idee faszinierte. Sie richtig verfolgt habe ich dennoch nie. Ich wollte und will keine Abstriche im OL machen. Und ohne diese wäre erfolgreiches Marathonlaufen, so wie ich es mir vorstellen würde, nicht möglich.

Wie gelingt es dir unter diesen Voraussetzungen jeweils, das Läuferspezifische zu verinnerlichen und derart imposante Leistungen auf die Strasse zu zaubern?
Mein OL-Training passt zu jenem eines Langstrecklers. Nur rund ein Drittel des Trainingsaufwandes gehört dem spezifischen OL-Technik-Training. Oder anders ausgedrückt: Pro Woche stehen ein- oder höchstens zwei OL-Trainings im Wald an, daneben aber rund 10 Stunden Lauftraining, also die Arbeit eines Langstrecklers. Und zu unserem Terrain im Wald und bei den Stadt-OLs: Die Fähigkeiten, die wir uns dabei aneignen, können wir vielfach nutzen. Ich denke an Cross’, an Gelände- oder Bergläufen, aber auch an die Stadtläufe mit den vielen Ecken und unterschiedlicher Unterlage. Der GP mit seinem anspruchsvollen Profil ist dazu ein gutes Beispiel. Joey Hadorn mit seinem Sieg im Altstadt-GP bewies dies ebenso.

Kommen wir zu einem Punkt, in dem sich die beiden Sparten bestimmt unterscheiden: die Schuhe. Bist du am GP auch einen Carbon-Sohle gelaufen?
Ja, und vor allem im Vorfeld sorgte diese Vorstellung schon für ein mulmiges Gefühl. Ich laufe selten mit diesen Schuhen. Das letzte Mal war ich am Kerzerslauf Mitte März damit unterwegs. Im Training trage ich sie nie. Darum zeigte sich in den Tagen vor dem Rennen Zusatznervosität. Ich stellte mir vor, wie ich «in hier in Bern wie auf Eiern um die Kurven ziehe» Zudem sollte ich als Profi ja wissen, dass man am Wettkampftag nichts neues ausprobieren sollte.

Und wie war’s nun?
Die Schuhe waren kein Problem. In den OL-Sprints laufe ich viel aggressiver. Die Kräfte, die damit auf die Muskeln und vor alle auf die Beine wirken, sind viel grösser. Die Richtung wechselt im OL-Sprint abrupter und viel öfter. Dennoch kam ich zu ungewohnten Empfindungen. Bei den Abwärts- und Aufwärtspartien sorgten die Schuhe für den Wunscheffekt: Sie federten. Aber viel übrig hatte ich am Schluss nicht mehr. Weil du anders rennst, ermüdet auch die Muskulatur ungewöhnlich. Die Waden gerieten ans Limit.  Vielleicht sollte ich das nächste Mal doch ein paar Trainings mit Carbon-Schuhen im Vorfeld ins Training einstreuen.

Wie geht es nun weiter für dich?
Wir OL-Läufer befinden uns im letzten Formschliff auf die Sprint-Weltcup-Rennen in Boras (SWE) Ende Monat. Die sind doppelt wichtig: für einen guten Start in die Weltcup-Saison und weil sie als Testläufe (Selektion für die WM) gelten. Bis zu Weltmeisterschaften Ende Juni in Kolding (Dä) gilt die Konzentration ganz den Sprint-Disziplinen. Nachher wechselt dies schlagartig. Die EM findet im August ausschliesslich im Wald statt. Ebenso die nächste Wald-WM: 2023 in der Schweiz, in der Region Flims. Das wird ein Highlight, für den Schweizer OL wie für mich selber.

Interview Jörg Greb